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Und der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt – das wissen wir, die Worte haben wir gehört, zum ersten Mal vor zwei Jahrzehnten und seither immer wieder. Wobei der Mensch in anderen Sprachen ja ein bisschen anders heißt: Human auf Englisch, kişi auf Türkisch, אדם auf Hebräisch, und so weiter. Singen kann man das alles trotzdem. Und zwar auf dieselbe Melodie, die Herbert Grönemeyer sich damals ausgedacht hat.
20 Jahre alt wird der Song „Mensch“ in diesem Sommer. Ein Jubiläum in einer zerrissenen Zeit, das einen kurz zurückblicken lässt – auf alles, was wir mit dem großen Popstück erlebt haben, wo wir es hören, feiern oder mit ihm heulen und streiten konnten. Zugleich ist es aber auch ein Anlass, seine unbedingte Gegenwärtigkeit auszuloten. Was Herbert Grönemeyer 2002 sang, hat 2022 eine neue Bedeutung bekommen, hat sich mit neuer Kraft und veränderten Perspektiven aufgeladen. Der passende Moment für eine atemberaubend andere Interpretation.
„Humaine“ von Camille ist kein Remix, keine Coverversion. Die hochprämierte Popkünstlerin aus Paris hat Grönemeyers „Mensch“ tief eingeatmet, sich von der Haltung und dem Geist des Originals inspirieren lassen und daraus einen Song gemacht, der klingt, als hätte er sich im Hier und Jetzt schillernd materialisiert. Der französische Text stammt von ihr, produziert hat sie „Humaine“ („Menschlich“) gemeinsam mit ihrem langjährigen musikalischen Partner Clément Ducol. Es ist eine Hommage an „Mensch“ zum 20. Geburtstag – und eine poetische Standortbestimmung zur Frage, was der Begriff Menschlichkeit heute alles bedeuten kann.
„C’est une chaîne humaine qui me tend la main”, singt Camille in ihrem Refrain, zu einem transparent federnden Groove, umflirrt von Samples ihrer eigenen Stimme: „À la fin l’infini reste.“ Auf Deutsch, ungefähr: „Da ist die Menschenkette, die mir die Hand reicht, am Ende bleibt die Unendlichkeit.“
Die Wortspiele und fantastischen Experimente sind typisch für ihr Werk. In Deutschland kennen die meisten Camille wohl für den Gesang, den sie als Teil der Gruppe Nouvelle Vague zu Neufassungen von „The Guns of Brixton“ oder „Too Drunk to Fuck“ beisteuerte. Seit 2002 hat sie in Frankreich sieben Soloalben herausgebracht, auf denen sie einen grandios unberechenbaren, so bezaubernden wie herausfordernden Pop feiert. Herbert Grönemeyer ist selbst begeisterter Fan. Umso größer war die Freude darüber, dass der spezielle Jubiläumssong zustande kam.
Die ursprüngliche Version von „Mensch“ kam am 5. August 2002 heraus, sie war Grönemeyers Comeback nach längerer Pause. Das starke Pop-Statement zu den Themen Trauer, Trost und Weitermachen wurde seine erste Nummer eins in den deutschen Singlecharts. Der Song erreichte den Platin-Award und trug als Titelstück entscheidend dazu bei, dass Grönemeyers Album „Mensch“ mit mehr als drei Millionen Exemplaren zu einer der bis heute meistverkauften Platten aller Zeiten in Deutschland wurde.
„Je suis une femme humaine“, singt Camille nun in ihrer neuen Version: „Ich bin eine menschliche Frau.“ Es ist auch der spezifisch weibliche Blick, den sie 2022 mit „Humaine“ dem expandierenden Universum von Grönemeyers Song hinzugefügt hat. Eine Antwort, eine Aneignung. Die besten Lieder ertragen so etwas nicht nur, sie fordern es sogar heraus. Und wir freuen uns schon auf die nächsten 20 Jahre.
Quelle: Universal Music